Hochgefühl im Höhenpark

Der Killesbergturm ist zehn Jahre alt geworden. Eine Liebeserklärung an ein gelungenes Stück Architektur.

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Gegensätze ziehen sich an. "Du bist so groß und i nur a Zwerg", heißt es im Wolfgang-Ambros-Lied über den Berg Watzmann. Den Menschen zieht"s beständig nach oben, er will größer sein, als er ist.

Nicht ganz so krass ist die Größendifferenz in diesem Fall. Der Killesbergturm misst 40,4 Meter, wenn man die adventskranzartige Spitze mitzählt. Die Anziehungskraft des Aussichtsturms basiert weniger auf seiner imposanten Größe.

Stattdessen besteht das mehrfach preisgekrönte Bauwerk aus vielen gelungenen Komponenten. Die Raffinesse dieser filigranen Konstruktion ist das eine, der gelungene Kontrast zur Umgebung das andere. Der je nach Tageszeit im Sonnenlicht unterschiedliche metallische Glanz des Stahlbaus steht in eigenartigem Kontrast zu all dem pflanzlichen Farbenreichtum im Höhenpark Killesberg. Streng genommen müsste ein Turm, der aus 70 Tonnen Metall und aus 2000 Metern stählernen Tragseilen besteht, und auf einem sanften grünen Hügel im Höhenpark Killesberg thront, in einer derart idyllisch konzipierten Gartenarchitektur wie ein Fremdkörper wirken. Tut er aber nicht. Wer das Wahrzeichen betritt, erfährt sich selbst und auch das Bauwerk als Teil der Natur. Auf der 31 Meter hoch gelegenen oberen Plattform ist es bei entsprechenden Wetterlagen böig wie am Meer. Mitunter hört man den Wind mit jeder der 174 Stufen, die man hochsteigt, lauter pfeifen. Manchmal schwankt auch der Stahlkörper leicht wie ein Schiff auf hoher See. Wer ihn besteigt, kann bei klarem Wetter weit schauen. Zugegeben: Menschen mit Höhenangst werden sich nicht wohlfühlen. Der Aufstieg als solcher ist schon ein Erlebnis. Stufe für Stufe entfernt man sich vom sicheren Boden. Irgendwann erreicht man die Wipfelhöhe benachbarter Bäume und sieht die Spaziergänger im Tal der Rosen auf Ameisengröße schrumpfen. Man ist frei und bekommt Hochgefühle. Als Trimm-Dich-Gerät eignet sich der Killesbergturm nebenbei auch. Wer frühmorgens die 348 Stufen hoch und runter springt, dem kann der Stress im Büro nicht mehr viel anhaben. Beste Luftqualität ist zudem garantiert. Im Sommer bei schönem Wetter pilgert manchmal eine ganze Karawane nach oben. Eine Besonderheit dieser Turm-Konstruktion ist, dass man durch kein Treppenhaus gehen muss.

Beim Geburtstagsfest zum zehnjährigen Bestehen am vergangenen Freitag im Höhencafé erzählten Fritz Oechßler und Wolfgang Müller vom Verschönerungsverein Stuttgart einige Anekdoten über die Entstehung des Bauwerks. Eine geht so: Bauingenieur Jörg Schlaich, der den Turm konstruiert hat, kommt aus Kernen im Remstal. Dort gibt es auch einen Aussichtsturm, ein ziemlich altes historisches Gemäuer. Als Kind hat Schlaich ihn bei Ausflügen mehrfach bestiegen. Schon damals störte ihn, wenn es im Treppenhaus des Turms eng wurde und sich die Hochsteigenden an den Herabsteigenden vorbeidrängen mussten. Die damalige Erfahrung hat wohl dazu beigetragen, dass Schlaich den Killesbergturm so konstruierte, dass eine gesonderte Treppe aufwärts und eine Treppe abwärts führt. Außer Jörg Schlaich hat es die Stadt Stuttgart dem Landschaftsarchitekten Hans Luz und dem Verschönerungsverein zu verdanken, dass die lange Zeit kritisch betrachteten Turmpläne, die keiner finanzieren wollte, tatsächlich realisiert wurden. Wer oben steht, ist begeistert von dem Rundblick über Stadt und Land.

Ein Sprichwort besagt: Vor alten Türmen soll man sich neigen. Der Killesbergturm ist zwar erst zehn Jahre alt, aber verneigen darf man sich trotzdem vor ihm und zu ihm sagen: Bleib aufrecht.

 

Von Georg Friedel
Mit frdl. Genehmigung der Nord-Rundschau
Veröffentlicht am 02.08.2011