Im Advent hält die gesamte erzgebirgische Volkskunstschar bei Kerstin Nestele Einzug – doch sie sind mehr als nur Dekoration.
Man kann seine Heimat verlassen, aber seine Heimat verlässt einen nie. Deshalb hält in der Feuerbacher Wohnung von Kerstin Nestele immer vom ersten Advent bis zum Dreikönigstag das Erzgebirge Einzug. Doch was steckt eigentlich hinter Räuchermann, Schwibbögen und Weihnachtspyramide?
Es ist eine Weihnachtswunderwelt, die sich da vor einem auftut: Krippenszenen in allen Erscheinungsformen – gedreht, geschnitzt und als Laubsäge-Arbeit. Rehe stapfen durch den Winterwald. Räuchermännchen gehen paffend ihrem jeweiligen Handwerk nach. Zwei volle Tage braucht Kerstin Nestele für den Aufbau: Auspacken, zusammenbauen, die Leichtläufigkeit der Pyramiden überprüfen. Und in Erinnerungen schwelgen: Das Lichterhaus ist vom Vater, Engel und Bergmann stammen von der Großmutter, das „Reiterlein“, ein berittener Nussknacker, der wie viele der Räuchermänner der Sammlung in Nesteles Heimatort Olbernhau gefertigt wird.
Besonders faszinieren die Pyramiden, bei denen die aufsteigende Wärme der Kerzen ein Flügelrad antreibt: Sogar eine frei hängende hat Nestele. Und eine aus ihrem Elternhaus, “aber die läuft leider nicht”. Sie nimmt ein Flügelrad ab und zeigt die geschwärzte Unterseite: Wenn Weihnachtspyramiden plötzlich stehen bleiben, können sie zu brennen beginnen. Vorsicht ist geboten, wie immer, wenn Kerzen im Spiel sind. “In der Familie hat es schon mal gebrannt, deshalb bleibt bei uns grundsätzlich jemand dabei, wenn die Pyramide läuft.”
In ihrer erzgebirgischen Heimat gibt es seit den 30-er Jahren auch immer mehr Großpyramiden auf den Marktplätzen der Ortschaften auf, wo sie Einheimische und Touristen gleichermaßen verzaubern. 18 Meter hoch ist die derzeit größte, sie steht allerdings in Hannover – auch das ein Zeichen dafür, wie beliebt die erzgebirgische Volkskunst inzwischen ist. In so mancher Familie ersetzt übrigens eine große, dann oft elektrisch betriebene, Pyramide den Weihnachtsbaum und natürlich werden die beliebtesten Stücke von Generation zu Generation weitergegeben.
Wer Bescheid weiß, kann an der Art der Dekoration im Erzgebirge einiges ablesen: Oft wurde zur Geburt oder zur Taufe eines Mädchens eigens ein hölzerner Engel gefertigt, bei den Jungen war es ein Bergmann. “In der Weihnachtszeit standen die Figuren im Fenster und man konnte von der Straße aus erkennen, wie viele Kinder da wohnen”, erinnert sich Kerstin Nestele.
Ausgesprochen grimmig schaut die Schar der Nussknacker auf ihrer Anrichte drein: Kein Wunder, in den “Hebelmännern” nahm man gerne die Obrigkeit auf die Schippe, es gibt sogar Darstellungen von Napoleon und Bismarck. Besonders liebt Nestele auch ihre Räuchermännchen: “So um die 80 sind es und jedes Jahr kommen ein oder zwei neue hinzu”, sagt sie. Die Grundformen der Männer – mitunter ist auch ein Alibi-Räucherfräulein in Form einer “Kloßfrau” oder einer Krankenschwester darunter – werden gedreht und von Hand bemalt.
Es ist die liebevolle Handarbeit, die die Figuren auszeichnet und viele Sammler achten darauf, dass ihre Schätze auch wirklich im Erzgebirge gefertigt werden. Allerdings wurde der Markt in den letzten zwanzig Jahren mit Massenware überschwemmt, überwiegend aus asiatischer Billigfertigung. Kerstin Nestele schüttelt sich beim Gedanken an die Plagiate: “Nein! Dann lieber nur ein Stück haben, aber ein Original: Handarbeit kostet einfach ihren Preis.”
Die heile Welt der durch Licht und Wärme geprägten erzgebirgischen Volkskunst stand übrigens im krassen Widerspruch zur Lebensrealität: Die Männer arbeiteten meist in den Bergwerken, die der Region ihren Namen gaben, und sahen praktisch den ganzen Winter über kein Tageslicht, erzählt Nestele. Der Rest der Familie betrieb oft mehr schlecht als recht eine heimische Landwirtschaft. An den langen Winterabenden versuchte man, durch allerlei Heimarbeiten ein Zubrot zu verdienen – und Holz gab es in den ausgedehnten Wäldern im Überfluss.
Tiefer geht auch die Bedeutung der heute zumeist elektrisch betriebenen Schwibbögen: “Sie symbolisieren das Mundloch des Bergwerkstollens, der zur letzten Schicht vor Weihnachten mit Lichtern geschmückt wurde”, nennt Kerstin Nestele eine Theorie zur iher Entstehung. Andere Kenner sprechen ihnen eine fast magische Bedeutung zu: Sie bildeten die Wanderung der Sonne im Verlauf eines Tages nach und sollten den Bergleuten nach einem langen harten Arbeitstag wieder sicher den Weg zurück nach Hause weisen.
Während derzeit viele unter den Einschränkungen des Weihnachts-Lockdowns ächzen, ist das etwas, was durchaus zum Nachdenken anregt: Am Ende zählt nur, den Tag zu überstehen und zu Hause in Sicherheit zu sein.
Von Susanne Müller-Baji