Hannes Mayr aus Feuerbach engagiert sich im Verein "Computerwerk Darmstadt". Die Mitglieder richten Computer, spenden sie Leuten, die keinen PC haben und kämpfen für mehr Datenschutz. In der Pandemie haben sie die Videokonferenz-Plattform „Senfcall“ entwickelt.
„Die Leute rennen uns hier gerade die Bude ein. Dreimal so viele Nutzer*innen wie unser bisheriges Maximum . . .“, twittert das Senfcall-Team am 11. Januar dieses Jahres um 9.01 Uhr. Es ist der erste Schulvormittag nach den Weihnachtsferien. Häusliches Lernen statt Präsenzunterricht ist angesagt. Der Andrang auf die Videokonferenz-Plattform der Studenten aus Darmstadt und Karlsruhe ist groß: Die User-Zahlen gehen steil nach oben: „Wir waren an dem Tag schon ordentlich am Schwitzen“, sagt Hannes Mayr. „Zu Spitzenzeiten hatten wir um die 6000 Nutzer gleichzeitig. Das war etwa das Fünffache von dem, was unsere Server noch im Dezember 2020 verkraftet haben“, berichtet er.
Hannes Mayr (auch zu sehen auf dem Foto rechts) ist in Stuttgart-Feuerbach aufgewachsen, ging aufs Neue Gymnasium, spielte früher bei der Kirbe die Trompete im Musikverein Feuerbach. Inzwischen studiert er Physik an der Technischen Universität (TU) Darmstadt im Masterstudiengang: Die Trompete steht momentan leider in der Ecke, er komme einfach nicht mehr dazu, bedauert er. Der 24-Jährige und seine rund zehn Mitstreiter im Verein „Computerwerk Darmstadt“ sammeln nebenher gebrauchte Computer, richten sie her und schenken sie Leuten, die sich keine eigenen PCs leisten können. Oder sie spenden sie direkt an Flüchtlingsvereine, die diese dann verteilen. Upcycling im besten Sinne: „Menschen mit Computern helfen“ heißt das Motto des Vereins, der 2014 gegründet wurde.
„Senfcall“ ist nun der neuste Ableger, den die Computerfreaks in Zeiten der Pandemie für digitale Treffen aufgebaut haben. Aus der Not machten sie eine datenschutzkonforme Tugend. Aber dazu später mehr. Jedenfalls ahnten sie in den Tagen vor dem 11. Januar, dass der Run auf ihr neues Videokonferenz-Tool nach den Ferien stark zunehmen könnte: „Wir wussten ja: Aufgrund des Lockdowns muss der Präsenzunterricht an den Schulen ausfallen. Daher haben wir uns gedacht, dass die eine oder andere digitale Lernplattform in die Knie gehen würde.“ Probleme gab es schließlich schon vorher: Die Kapazitäten der Schul-Clouds waren zu knapp dimensioniert. Und immer wieder griffen Hacker die Systeme der Schulen an. Die Studenten aus Darmstadt und Karlsruhe trafen sich daher am 9. Januar in einer Videokonferenz. Sie überlegten gemeinsam, wie zu verfahren wäre, wenn Bildungseinrichtungen mit ihren Schulklassen auf die Videokonferenz-Plattform der Senfcall-Macher abwandern würden. Eines war klar: „Bei zu vielen Besuchern auf unserer Internet-Seite hätten wir ein Problem bekommen. Wir hätten dann den ‚Button‘ für unser Onlinekonferenz-Tool deaktivieren müssen“, meint Mayr im Nachhinein und fügt an: „Wir haben deshalb übers Wochenende mehrere Server dazu gebucht.“ Die Studierenden stockten die Senfcall-Kapazitäten auf und waren so für den Stresstest gewappnet. Das neue pädagogische Nutzerklientel gab anschließend in den sozialen Netzwerken gute Noten.
Seit April 2020 bietet der Verein „Computerwerk Darmstadt“ auf www.Senfcall.de ein System an, das auf jedem Browser läuft und mit ein paar Klicks zu bedienen ist. Im Hintergrund arbeitet dabei die Software „BigBlueButton“. Diese wird seit über zehn Jahren von einer weltweiten Gemeinschaft aus Unternehmen und Freiwilligen ständig weiterentwickelt.
Während hierzulande Medien und Politiker seit fast zwölf Monaten lautstark darüber lamentieren, warum das mit dem digitalen Unterricht und dem datensicheren Distanz-Lernen hierzulande so furchtbar langsam voran kommt und so zäh verläuft, haben die Studenten der TU Darmstadt schon beim ersten Lockdown ziemlich zügig eine nutzerfreundliche und datenarme Alternative zu kommerziellen Meeting-Plattformen geschaffen. Die Geburtsstunde von Senfcall schlägt, als im Frühjahr 2020 die Corona-Pandemie den Präsenzunterricht an deutschen Hochschulen von heute auf morgen lahmlegt: „Leider hat sich unsere Universität damals entschieden, bei einem großen US-amerikanischen Unternehmen ein System für die Durchführung von Videokonferenzen einzukaufen, statt eigene Server zu nutzen“, berichtet Mayr. Das ärgert und stört die „Computerwerker“ ungemein, auch weil der ausländische Dienst ihrer Ansicht nach nicht mit der hierzulande gültigen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) vereinbar ist. Die Uni argumentiert, dass eine eigene Lösung zu entwickeln, viel zu kompliziert sei. „Das halten wir für Quatsch“, hält Mayr dagegen. „Deshalb wollten wir dieses Argument der Universität widerlegen.“
Also machen sie sich an die Arbeit: Ein paar Wochen dauert die Entwicklung ihres Tools im April 2020, danach ruckelt es noch ein wenig, manches wird nachgebessert und voilà: Senfcall ist geboren: „Wir nutzen dafür eine sogenannte Open-Source-Software namens BigBlueButton“, erklärt Mayr. Open source bedeutet: Jeder kann sich den Quellcode dieser Software anschauen und sie an eigene Erfordernisse anpassen. Die Senfcall-Entwickler haben dabei vor allem ein Ziel im Auge: „Wir wollen nur die Daten erheben, die für den Service nötig sind, und haben das System so sicher und datenarm wie möglich gemacht.“
Schon seit den Schulzeiten beschäftigt sich Hannes Mayr mit dem Thema: „Über Vorratsdatenspeicherung (VDS) habe ich in der Oberstufe ein Referat gehalten.“ Nach dem Abitur am Neuen Gymnasium Feuerbach macht er beim Verein „Digitalcourage“ in Bielefeld ein dreimonatiges Praktikum. Die Laissez-Faire-Haltung und Unbekümmertheit vieler Menschen gegenüber der Datensammelei vieler Unternehmen und Institutionen kann er nicht nachvollziehen. Das digitale Ausspionieren und Speichern von Nutzerdaten wirkt seiner Meinung nach wie ein schleichendes Gift in der Demokratie und höhlt Grundrechte aus: „Im Grundgesetz steht im Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und das beinhaltet meiner Meinung nach auch den Schutz der personenbezogenen Daten“, findet Mayr. Das Recht auf Selbstbestimmung umfasse eben auch den Anspruch des Einzelnen, selbst über Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen.
Eigentlich war Senfcall in erster Linie für Vereine und Privatpersonen gedacht. Doch auf der Plattform tummeln sich inzwischen viele Beschäftigte in Bildungseinrichtungen: „Wir bekommen regelmäßig Post von Lehrerinnen und Lehrern, die auf unsere Server zugreifen, wenn ihre Plattformen überlastet sind. Viele bedanken sich dann bei uns“, erzählt Mayr. „Senfcall“ macht also Schule. Jeder darf seinen Senf dazugeben – ohne, dass dieser gespeichert und einem hinterher aufs Butterbrot geschmiert wird.
Von Georg Friedel