Saubere Sache:

Naturseife erlebt in Corona-Zeiten ein Comeback. Auch bei der Manufaktur Haag in Feuerbach steigt die Nachfrage

Matthias und Nicole Haag vor ihrem kultigen Firmen-Bulli. Fotos: Georg Friedel Bild 1 von 4: Matthias und Nicole Haag vor ihrem kultigen Firmen-Bulli. Fotos: Georg Friedel

Die Augen schließen und hinter der Mund-Nasen-Maske ganz tief durchatmen: Das riecht gut, sehr gut sogar. Doch richtig einordnen kann die eigene Nase den Duft nicht:

Ach was? Das soll Waldmeister mit Pfefferminze sein? Darauf wäre man allein nicht gekommen. Es gibt auch Pfeffer und Koriander oder Granatapfel. „Und Hopfen ist unsere neueste Duftnote“, sagt Nicole Haag.

Mancher könnte meinen in der kleinen Manufaktur von Matthias und Nicole Haag würden Speisen abgeschmeckt oder Getränkemixturen ausprobiert. Aber der Eindruck trügt. Denn in den blauen Kanistern und den gestapelten bräunlichen Papiersäcken lagern Zutaten und Grundstoffe für die Herstellung von Seifen. Nicole Haag holt ein pinkfarbenes Endprodukt mit einem eingeprägten Hirschgeweih-Kopf aus einer der Pappschachteln hervor. Der Zwölfender auf der Seifen-Oberseite führt einem aber beim Riechtest komplett auf die falsche Fährte. Nein, das ist keine Waldkräutermischung. Stattdessen wäre das passende Kopfkino zu dem Duft ein Spaziergang durch ein sommerliches Blumenbeet: „Das ist unsere Damaszener-Rose“, löst Haag das kleine Rätsel auf.
Wohlgerüche durchströmen die kleine Halle in dem Haus an der Leobener Straße 24 in Stuttgart-Feuerbach. Draußen steht in Futura-Lettern auf der Hausfassade: „Haag – Seifen seit 1756“. Über den kleinen Innenhof führt der Weg in die Seifenfabrik, danach geht es durch ein altes Holztor, dass in einen taubenblau gestrichenen Holzschuppen führt. In dem Vorbau, der auch als Garage dient, parkt ein restaurierter VW-Bus, Baujahr 1976. Die schwarze Silhouette eines eingeschäumten Pferdes ziert die sonst cremeweiße Seiten-Lackierung des Transporters, ein paar kleinere auf die Karosserie gemalte Seifenblasen scheinen im Fahrtwind einfach wegzuwehen. Mit ihm transportieren die Haags ihre Seifen. Schon allein die Fahrt durch Stuttgart mit diesem „Busle“ ist ein Hingucker und weckt die Neugier der Passanten: Manche schauen sich am Straßenrand verwundert um, andere erinnern sich vielleicht an die Zeit, als sie selbst noch mit so einem Modell herumkurvten. Die Fahrt ging an wolkenfreien Hochsommertagen bis hinunter nach Avignon in Südfrankreich und an violetten Lavendelfeldern vorbei. Die helle Stimme von Joni Mitchell erklang aus dem Autoradio und sang „Blue“.

„Der Bulli heißt bei uns: Erstklassige Beratung“, holt einem Matthias Haag augenblicklich zurück in die Gegenwart. Denn das war auch schon der simple Slogan von seinem Onkel Carl Heinz, der bis zu seinem Tod die Parfümerie Haag nahe der Stuttgarter Stiftskirche führte. Er starb überraschend am zweiten Weihnachtsfeiertag 1999, viel zu früh mit 71 Jahren. Seine Frau Irmgard schloss das Fachgeschäft dann im Sommer 2000. Ohne ihren geliebten Mann schien ihr das ganze Vorhaben sinnlos zu sein und es gab keinen Nachfolger. Die Ära Haag-Seifen war damit vorerst beendet.

Doch jetzt lebt sie wieder auf, in der neunten Generation. „Mit dem VW-Bus hat bereits mein Onkel seine Parfümerieartikel ausgefahren. Ich habe ihm manchmal dabei geholfen“, berichtet Matthias Haag. Er bekam den alten Bus irgendwann geschenkt und hielt ihn gut in Schuss. Die Haags haben damit Urlaube in Skandinavien verbracht, Bauschutt transportiert und Umzüge gestemmt. Dass der alte Transporter nun nach so vielen Jahren und Kilometern wieder als Markenbotschafter für Haag-Seifen fungiert, hätte dem Onkel sicher gefallen. Genauso gefallen hätten ihm wahrscheinlich auch diese alten Seifenproduktionsmaschinen aus den 1950er Jahren. Sie standen in einer alten Fabrikhalle in der Schweiz – ausrangiert auf dem Abstellgleis. Doch dann kamen die Haags, holten sie nach Stuttgart und brachten sie wieder zum Laufen.

Gut sieben Jahre ist es jetzt her, da stürzte sich das Stuttgarter Ehepaar mit einer plötzlichen, aber danach nicht mehr enden wollenden Begeisterung auf das Seifenmachen. Nicole Haag war damals so um die 43 Jahre alt. „Irgendwas müssen wir noch machen“, sagte sie sich. Eigentlich war sie ausgelastet mit ihrem Beruf als Zahntechnikerin und ihr Gatte als Professor für Maschinenbau an der Hochschule Aalen natürlich auch. Dazu kamen die Kindererziehung, der Haushalt, der Garten, der Rest der Familie und Freunde: „Also nicht, dass uns in irgendeiner Form langweilig gewesen wäre“, erzählt sie, aber es fehlte offenbar doch etwas. Irgendwann hatte sie dann nach dem Besuch einer privaten Ausstellung die Idee: „Du Matthias“, sagte sie zu ihrem Mann, „ich weiß jetzt, was wir machen: Seife.“

So kam das ganze Projekt in Gang. „Ich habe erst mal gegoogelt, wie das geht“, berichtet Nicole Haag. Die ersten Versuche mit unterschiedlichen Ölen und selbst gebastelten Förmchen in der heimischen Küche waren ernüchternd: „Das war nicht unser Qualitätsanspruch.“ Expertenrat war gefragt: Das Ehepaar stieß bei ihren Recherchen auf einen Hersteller von Seifenformen aus Wetzlar. Er half ihnen und öffnete Türen: „Ihr braucht zunächst einmal gute Maschinen zur Herstellung der Seifen“, sagte er. In Hornussen stand eine komplette Fertigungslinie der alten Seifenfirma Mettler in einer Halle.

Sie fuhren in die Schweiz und schauten sich die Maschinen an: „Die nehmen wir“, sagte Matthias Haag kurzentschlossen. Doch wohin mit dieser fast 70 Jahre alten Heavy-Metall-Kollektion? „Wir hatten plötzlich 15 Tonnen Stahl und kein Gebäude“, lacht Nicole Haag und freut sich noch heute über diese damals mutige Investition. In der heimischen Garage war kein Platz dafür. Und zusätzliche Doppel-T-Träger ins Wohnhaus an der Birkenwaldstraße einzuziehen, wäre dann doch ein wenig zu verrückt gewesen. Also mussten neue Räume her. Am besten ein kleiner Betrieb. Sie schauten sich lange nach etwas Passendem um. „Irgendwann ploppte dann im Internet dieses Objekt an der Leobener Straße auf.“ Eine Immobilienfirma bot die Räume an. Ein Bestatter war zuvor drin gewesen, davor ein Gemüsehändler. Nach drei Wochen war der Verkauf klar. Und die Baustelle begann: Fenster, Räume, Böden, Decken, eigentlich das ganze Gebäude wurde erneuert. Sie bauten fast alles um und richteten die Räume neu ein. Nach fünf Jahren waren sie fertig und es konnte losgehen: „2017 haben wir hier drin das erste Mal Seifen gemacht und es hat tatsächlich funktioniert. Wir waren völlig begeistert.“

Und das sind sie bis heute. Die guten Ideen gehen ihnen einfach nicht aus. Jede Serie von ihnen ist neu und praktisch ein Unikat. „Unsere Seifen sind vegan und die Inhaltsstoffe ökologisch zertifiziert“, sagt Nicole Haag. Seit morgens um 8.30 Uhr ist das Paar beschäftigt. Sie wollen im Laufe des Tages eine größere Charge fertigstellen. 1600 Stück sind bestellt. „Das ist so die Obergrenze, die wir an einem Tag schaffen.“ Matthias Haag sitzt auf einem Holzstuhl an der alten Seifenformenpresse und legt die rechteckig zugeschnitten Stücke auf eine runde Messingform: Eine Metallplatte senkt sich herab und presst den Rohling in die Form. Das Ganze wird begleitet von einem lauten Rumpeln: „Das ist der schönste Moment, wenn aus diesem Brikett das geformte Seifenstück wird“, sagt Haag, strahlt übers ganze Gesicht und übergibt das gepresste Stück seiner Frau. Sie sitzt neben ihm auf einem runden Hocker, zupft den überstehenden Rand ab, schmeißt die Reste in eine kleine Wanne und sortiert die fertigen Seifenstücke in eine Kiste. Ein ganzer Stapel ist schon fertig. Doch Monotonie kommt nicht auf. Der Lärm der laufenden Mettler-Maschinen scheint für Matthias Haag die reinste Musik zu sein. Bei Schwermetall blüht der Professor in Jeans, T-Shirt und Birkenstocks auf, er ist ein schwäbischer Tüftler: „Er entwickelt auch Greifer und Exoskelette an der Universität“, sagt seine Frau, die neben der Produktion auch fürs Marketing und für den Kontakt zu den Kunden zuständig ist. Er wiederum schraubt, repariert und bastelt für sein Leben gern an Autos, Traktoren oder anderen schweren Maschinen herum. Dafür hat er ein goldenes Händchen.

In einem kleinen Nachbarraum der Seifen-Manufaktur stehen Holzgestelle, auf denen noch unverpackte Seifen auf beschichtetem weißem Papier in verschiedenen Farben und Formen lagern: „Wir lassen sie nach der Produktion in der Manufaktur noch eine Woche liegen – zum Trocknen“, sagt Nicole Haag. Eine Seife braucht ähnlich wie ein guter Käse eine gewisse Ruhezeit. In ihrer kleinen Fabrik nahe dem Roser-Platz produzieren die Haags an zwei bis drei Tagen im Monat die Seifen in Handarbeit. Porsche aus Zuffenhausen oder die Geschäftsstelle des VfB Stuttgart in Cannstatt haben schon Extra-Serien mit eigenem Design und Duft bestellt. Auch beim Breuninger findet man Seifen. „Ich lieg hier nicht zum Spaß“, steht frisch eingestanzt auf der Vorderseite der Seifenstücke, die heute den ganzen Tag produziert werden. Man kann darüber schmunzeln. Doch der Satz passt in diese Corona-Zeiten. „Regionalität und natürliche Inhaltsstoffe sind die Basis unserer Arbeit“, sagt Nicole Haag. Ein Seifenstück ist eben auch ökologisch eine saubere Sache: „Die Leute wollen zunehmend auf das ganze Plastikzeug verzichten.“ Auch da haben sich die Hobby-Unternehmer aus Feuerbach etwas Kreatives einfallen lassen: „No plastic when using me!“ steht auf einigen der Haag-Seifen. „Solche Sachen fallen uns gerne mal abends bei einem Glas Wein ein.“ Auch an einer Haarseife tüftelt das Ehepaar schon einige Zeit. Die ist ergiebiger und belastet nicht so sehr die Gewässer: „Ja, wir spüren den Anstieg und das Interesse an unseren Produkten. Und es freut uns natürlich, dass wir offensichtlich 2013 nicht so falsch mit unserem Vorhaben lagen“, sagt Nicole Haag.

Ihr Mann stammt aus einer sehr alten Stuttgarter Seifensieder-Familie. Gräbt man tief in der Familiengeschichte und dreht die Uhr weit zurück, dann stößt man auf Johann Matthäas Haag. Er meldete am 3. Juli 1756 in Stuttgart ein Gewerbe als Seifensieder an. Produktion und Verkauf befanden sich ursprünglich im Haus der damaligen Kanzleistraße 12 – heute der Kleine Schlossplatz. Auf dem Stuttgarter Zunftkelch aus dem Jahr 1772 ist der Name ganz oben eingraviert. Der Meisterkrug verstaubte einige Zeit auf dem Dachboden des Alten Schlosses. Bis die Nachfahren nachforschten und ihn aus der Versenkung holten. Heute steht er im Museum für Stadtgeschichte im Stadtpalais. Königin Olga von Württemberg soll übrigens auch auf Seife aus dem Hause Haag gestanden haben. Bitter Mandel war ihr Favorit. Ab 1880 war Haag „königlicher Hoflieferant“.

Das Seifenmachen hört sich vielleicht leicht an. In den sozialen Netzwerken gibt es dazu hübsche Filmchen: Ein paar Öle im Topf verrühren, Natron rein, Farbe und Duft dazu, in Förmchen gießen und fertig ist das Ganze. Doch mit solchen „Soap-Geschichten“ wirft man Haag-Seifen besser nicht in einen Topf. Aus dem Stadium der kreativen Versuchsküche sind sie längst heraus. Und weil in ihrer Manufaktur die Maschinen auch tageweise oder ganze Wochen stillstehen, so bieten sie die Räume auch für kulturelle Zwecke und Veranstaltungen an. Ende des vergangenen Jahres war ein kleines Film- und Tonteam sowie Mitglieder des SWR-Vokalensembles in der Seifenfabrik zu Gast. Eine der Sopranistinnen des Rundfunkchors, Dorothea Winkel, war dort in Aktion: „Das war toll, sie hat Meditationsgesang gesungen und unsere Seifenschneidemaschine lief schön beleuchtet nebenher mit“, berichtet Haag. Auch dies: eine saubere Sache.

Von Georg Friedel

Infos: www.seifen-haag.de


Veröffentlicht am 10.06.2021