Matthias Erzberger wurde vor 100 Jahren von Rechtsextremisten erschossen. Der Reichsminister und Initiator der Friedensresolution von 1917 war in jungen Jahren in Feuerbach aktiv. Von Georg Friedel
Die Spurensuche nach einem der mutigsten und klügsten politischen Köpfe des ausgehenden Kaiserreichs und der jungen Weimarer Republik beginnt vor einem roten Backstein-Gebäude an der Elsenhansstraße 9 in Stuttgart-Feuerbach. Dort erinnern an der Fassade des eher modern wirkenden Hauses zwei Tafeln an Matthias Erzberger. Die größere der beiden Tafeln stammt vom Bürgerverein Feuerbach. Dem Historiker und früheren CDU-Bezirksbeirat Joachim Arendt ist es zu verdanken, dass diese zugegebenermaßen kurze Feuerbacher Lebensphase eines wichtigen „Wegbereiters der deutschen Demokratie“ nicht ganz in Vergessenheit geraten ist.
Hinter der kleinen Mauer und den wuchernden Büschen ist das kleine Porträt-Bild von Erzberger auf der goldenen Tafel allerdings schwer zu erkennen. Es zeigt den Schneider-Sohn aus Buttenhausen mit ernster Miene, Zwicker-Brille und streng nach hinten gekämmten Haaren. Darüber steht: „Vom Februar bis September 1896 unterrichtete hier als Schulamtsverweser der schwäbische Katholik und spätere Zentrums-Politiker und Reichsminister Matthias Erzberger.“
Heute werden in dem Klinkergebäude mehrere Kita-Gruppen des katholischen Kindergartens der Gemeinde St. Josef betreut. Daneben liegt das Pfarrbüro der kroatischen katholischen Gemeinde. Früher befand sich auf diesem Grundstück die freiwillige Konfessionsschule der katholischen Kirchengemeinde Feuerbach – die spätere Brühlschule. Darin hat Matthias Erzberger als Volksschullehrer ein knappes dreiviertel Jahr lang unterrichtet. Es ist davon auszugehen, dass ihm in den Feuerbacher Klassenzimmern eher Kinder und Jugendliche aus der Arbeiterschicht gegenübersaßen. Und keine Bürgersöhnchen oder Unternehmenstöchter. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte Feuerbach im Zuge der Industrialisierung einen starken Zuzug. Von 1861 bis 1910 stieg die Zahl der Einwohner im Ort von 2874 und 14 244 Personen. Der Aufstieg vom armen Dorf zur Stadt erzeugte Gewinner und Verlierer. „In den Betrieben herrschten harte Arbeitsbedingungen bei täglich bis zu zehn Arbeitsstunden an sechs Wochentagen. Auch viele Frauen und selbst ältere Kinder wurden in den Betrieben beschäftigt. Die Zeitungen berichten von schweren Betriebsunfällen“, schreibt Autor Jörg Kurz in seinem historischen Feuerbach-Buch. Profiteure waren Unternehmer, die beste Bedingungen vorfanden: „Die Nähe zu Stuttgart, die von der Gemeinde durch Vorkauf günstig gehaltenen Bodenpreise und das im Verhältnis zu Stuttgart niedrige Lohnniveau lockten bis 1913 insgesamt 128 Unternehmen herbei“, schreibt Kurz an anderer Stelle seines Buches.
Die erste katholische Kirche wird im protestantisch geprägten Feuerbach 1895 an der Oswald-Hesse-Straße gebaut, gleich daneben entsteht eine Konfessionsschule. Am 5. Februar 1896 beginnt Erzberger als 20-jähriger Junglehrer in der aufstrebenden katholischen Gemeinde mit dem Unterrichten. Der Buttenhausener erlebt hier wie bei seiner ersten Anstellung als Hilfslehrer in Göppingen eine ähnliche Situation. Neben der pädagogischen Arbeit und dem Unterricht hilft er beim Aufbau der neuen Kirchengemeinde mit. Er unterstützt und berät katholische Arbeiter und Gemeindemitglieder bei Fragen der Krankenversicherung, bei Auseinandersetzungen in Betrieben oder anderen Problemen. Gleichzeitig wirbt er dafür, sich in katholischen Arbeitervereinen zu organisieren. Die „Schwertgosch“ Erzberger legt sich aber auch auf öffentlichen Veranstaltungen mit Sozialisten und Linksliberalen an. Er selbst steht der erst kürzlich in Württemberg neu gegründeten katholischen Zentrumspartei nahe. Sein Talent als Debattierer und Redner bleibt in der Szene nicht unentdeckt. Der Chefredakteur des Deutschen Volksblattes bietet dem Feuerbacher Junglehrer eine Stelle in seiner Redaktion an. Erzberger hängt seinen Lehrerjob kurzerhand nach neun Monaten an den Nagel und startet als 21-jähriger Volontär in der Redaktion des Stuttgarter Deutschen Volksblattes durch. Chefredakteur Joseph Eckard ist begeistert. „Da habe ich ja ein politisches Genie entdeckt“, schwärmt sein Mentor und Entdecker. Sich in der Diaspora gegen massive Widerstände durchzusetzen, scheint Erzberger regelrecht zu beflügeln. Aber die katholische Tageszeitung ist letztendlich auch wieder nur ein Sprungbrett für höhere Aufgaben: „Das Deutsche Volksblatt war damals das Organ des Württembergischen Katholizismus und Sprachrohr der katholischen Zentrumspartei. Die Redaktionsräume befanden sich in der Urbanstraße. Im selben Haus war auch das katholische Arbeitersekretariat untergebracht. Chefredakteur Eckard hat den jungen Erzberger an die Hand genommen. Unter seiner Anleitung entwickelte er sich in den folgenden Jahren zu einem wichtigen Multifunktionär im entstehenden katholischen Vereinswesen Württembergs“, berichtet der Historiker Christopher Dowe vom Haus der Geschichte. Anfang Mai 1897 wird Erzberger katholischer Arbeitersekretär. Er ist ein Arbeitstier, fleißig, tatkräftig und blitzgescheit. Er reist herum, hält Vorträge. 1903 wird der Buttenhausener mit 28 Jahren als jüngster Abgeordneter in den Berliner Reichstag gewählt. Spätestens jetzt wird er zu dem, was die Briten ein „Political Animal“ bezeichnen, sagt der Erzberger-Kenner Christoph E. Palmer. Der frühere Minister im Staatsministerium und CDU-Landtagsabgeordnete betont, dass Erzberger in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich gewesen sei. Eben ein politischer Berserker, aber auch ein Mann aus dem einfachen Volk, dessen steile Karriere von den Vertretern des wilhelminischen Obrigkeitsstaates mit Argwohn betrachtet wird: „Er war in seiner Art für die damaligen Eliten unwahrscheinlich provokativ“, fasst Palmer zusammen. Schon als Polit-Youngster in der schwäbischen Provinz greift Erzberger bei Veranstaltungen die Gegner aus dem sozialdemokratischen, sozialistischen, aber auch liberalen Lager frontal an. Aber Dowe betont gleichzeitig, dass Erzberger später als führender katholischer Zentrums-Politiker, Finanzminister und Vizekanzler den steten Kontakt zur SPD und den Liberalen gehalten habe. Am 19. Juli 1917 beschloss das Parlament, mit einer Mehrheit aus Zentrum, linksliberaler Fortschrittlicher Volkspartei und SPD einen „Frieden der Verständigung“ mit Frankreich anzustreben.
Doch die innenpolitischen Gegner der Weimarer Republik hatten schon die Büchsen gespannt. Spätestens ein Jahr später hatten sie Erzberger, der am 11. November 1918 das für Deutschland harte Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet hatte, zum Abschuss freigegeben. Er war voll in den Fokus antidemokratischer Kräfte und ihrer publizistischen Shitstorm-Kampagnen geraten: „Die Kugel, die mich treffen soll, ist schon gegossen“, soll Erzberger einige Monate vor seiner Ermordung gesagt haben. Er behielt recht. Am 26. August 1921 erschossen ihn zwei Mitglieder der rechtsextremen terroristischen Vereinigung „Organisation Consul“ im Schwarzwald während eines Waldspaziergangs.
Es war nicht der letzte von insgesamt 376 politischen Morden zwischen Januar 1919 und Juni 1922. Allein 354 dieser Bluttaten gingen auf das Konto von Rechtsradikalen. Für Kämpfer der Demokratie, die wie Matthias Erzberger nicht leise wegtreten wollten, wurde die Luft zum Atmen dünn und dünner. Und die Weimarer Republik marschierte stramm Richtung Terror und Diktatur.
Info:
Der Historiker Christopher Dowe, der auch eine Biografie über Matthias Erzberger veröffentlicht hat, wird voraussichtlich am Dienstag, 23. November, im Anschluss an die Bezirksbeiratssitzung im Sitzungssaal des Bezirksrathauses Feuerbach, Wilhelm-Geiger-Platz 10, einen Vortrag über den Zentrumspolitiker halten. Seine Zeit in Feuerbach soll dabei auch eine Rolle spielen.