Die Stuttgarter Initiative Radentscheid hat mit Mahnwachen in Feuerbach und Weilimdorf an zwei verunglückte Pedelec-Fahrer erinnert. Das Problem geht freilich tiefer.
Man sieht sie hin und wieder am Straßenrand: Geisterhaft weiße Fahrräder, so genannte Ghost Bikes, die an tödlich verunglückte Radler erinnern. Gerade hat die Initiative Radentscheid Stuttgart zwei neue aufgestellt: Ein Pedelec-Fahrer war am 2. September in Weilimdorf gestürzt – ohne Fremdeinwirkung, eventuell beim Überfahren eines Bordsteins. Und eine Woche später war eine Pedelec-Fahrerin in Feuerbach an der Ecke Rüdiger- und Heidestraße von einem Fahrzeug erfasst worden. Was genau passiert ist, wird in beiden Fällen noch ermittelt.
Die Initiative Radentscheid warb bei den beiden Mahnwachen schon mal für eine fahrradfreundlichere Stadt: “Die Unfallzahlen mit Radfahrenden steigen in Stuttgart ja leider schon sei Jahren stark an – dass nun gleich zwei tödliche Unfälle binnen einer Woche geschehen sind, macht uns fassungslos”, schreibt Carola Pein vom Radentscheid. “Die Stadt Stuttgart hat 2019 im Rahmen des Zielbeschlusses zur Fahrradstadt versprochen, dass sie derartige Unfälle unverzüglich analysieren und deren Ursache beseitigen wird”, ergänzt Sprecher Thijs Lucas.
Man beruft sich hier auf die Zahlen des “Sonderberichts Radverkehrsunfälle” des Referats Sicherheit, Ordnung und Sport von vergangenem Jahr. Demnach ist die Zahl der Unfälle mit Radfahrer-Beteiligung seit 2017 beständig angestiegen, “von 503 auf 621 im Jahr 2018 und 568 im Jahr 2019.” Für 2020 vermeldet das Polizei-Presseportal 508 Unfälle mit Radfahrern und 182 mit Pedelecs. Die Zahl sei aber mit Vorsicht zu genießen: „Während Corona haben viele das Radfahren entdeckt”, schränkt Polizei-Sprecher Allen Bühler ein.
Schuldzuweisungen sind fehl am Platz: 56 Prozent der Fahrrad- und 57 Prozent der Pedelec-Unfälle 2020 waren von den Zweiradfahrern verursacht. Hatten Autofahrer den Unfall verschuldet, ging es überdurchschnittlich oft darum, dass sie den Radlern die Vorfahrt genommen hatten. Gleichzeitig hat die Zahl der Beschwerden von Fußgängern wegen rücksichtslosen Radfahrens laut Bericht “erheblich zugenommen”.
Auch vor Ort in der Rüdigerstraße wird klar, dass das Problem tiefer geht, und das nicht nur in Feuerbach: Etliche Autofahrer sind zu schnell unterwegs, hinzu kommen der stetige Schleichverkehr in der Rüdigerstraße sowie Radler, die sich waghalsig mal eben zwischen den Fahrzeugen “durchschlängeln”. Eine Anwohnerin erzählt, man habe sich nach dem tödlichen Unfall an die Stadt gewandt, mit der Aufforderung, die Verkehrssituation zu verbessern: “Es fehlen Übergänge und Zebrastreifen, die Zone 30 fängt erst hinter der Kreuzung an. Und weil überall geparkt wird, fahren die Autofahrer auch mal mit zwei Rädern auf dem Gehweg.”
Die derzeitige Mobilitätswoche zeigt unterdessen Alternativen zum Individualverkehr auf, das Programm ist unter www.stuttgart.de/mobilitaetswoche abrufbar.
Am vergangenen Wochenende sollten übrigens kostenlose Fahrten in der Tarifzone 1 Lust auf die Öffentlichen machen. Auffallend war allerdings, dass die Tatsache an den Haltestellen nicht kommuniziert wurde – nicht, dass zu viele das Angebot nutzen. Ohnehin läuft die Mobilität in der Region derzeit nicht rund: Angesichts diverser Streiks sowie Baustellen auf nahezu allen Strecken geht es vielleicht gar nicht darum, mehr Menschen zum Umstieg zu bewegen, als vielmehr die bestehenden Kunden nicht weiter zu vergraulen.
Schnelle und einfache Lösungen scheinen ohnehin nicht in Sicht. Christina Müller von Radentscheid bringt es auf so den Punkt: “Der Platz ist begrenzt und vielleicht sind das Verteilungskämpfe.” Auch Polizeidirektorin Claudia Rohde stellt in dem Sonderbericht fest: "Es ist uns wichtig, alle Verkehrsteilnehmende zu erreichen. Autofahrer, Fahrradfahrer und Fußgänger – sie alle teilen sich in Stuttgart einen begrenzten Verkehrsraum. Ich wünsche mir ein Mehr an gegenseitiger Rücksicht und Achtsamkeit.”
Von Susanne Müller-Baji