Die Scheinanlage der Nazis bei Weilimdorf lockte nachts Bomber in den Stuttgarter Norden

„Christbäume“ und andere Camouflage-Tricks

Getarnte Scheinsignalrakete mit Abschußrampe und Zündgerät. Zu sehen in der Ausstellung von Schutzbauten Stuttgart am Wiener Platz. Foto: Schutzbauten Stuttgart Bild 1 von 2: Getarnte Scheinsignalrakete mit Abschußrampe und Zündgerät. Zu sehen in der Ausstellung von Schutzbauten Stuttgart am Wiener Platz. Foto: Schutzbauten Stuttgart

Um alliierte Bomber im Zweiten Weltkrieg bei Nachteinsätzen von ihren Zielen in Stuttgart abzulenken, gab es eine Scheinanlage zwischen Weilimdorf und Gerlingen. Auch die Feuerbacher dürften davon betroffen gewesen sein.

Auf dem Gelände zwischen Bergheimer Hof, Fasanengarten, Hausen, Gehenbühl und Gerlingen befand sich von 1943 bis Kriegsende ein weitgehend geheim gehaltenes militärisches Sperrgebiet. Es war für die Bevölkerung tabu und durfte nicht betreten werden. Denn auf dem rund 175 Hektar großen Gelände befand sich eine sogenannte Scheinanlage, die die alliierten Bomberpiloten bei Nachtflügen täuschen und verleiten sollte, ihre tödliche Fracht nicht auf die Stuttgarter Innenstadt, sondern auf den Wiesen und Feldern nahe Weilimdorf und Feuerbach abzuladen.

Vermutlich liegt manches explosive „Begleitobjekt“ dieser Scheinanlage noch im Boden des Stuttgarter Nordens. Fliegerbomben werden dort herum immer wieder entdeckt. So wie am 2. Juni 2019 in Giebel. Dort musste eine 500-Pfund Sprengbombe unschädlich gemacht werden. Während der Bergungsarbeiten wurden 2600 Personen evakuiert. Erst vor kurzem wurde ein Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg im Feuerbacher Tal im Gewann Ziegelwiesen gefunden. Am vergangenen Samstag fand die Entschärfung des 250 Kilogramm schweren Sprengkörpers statt. Auch dort musste die Fundstelle vorher weiträumig evakuiert werden. Davon betroffen waren 170 Bewohner aus umliegenden Wohngebieten.

Natürlich lässt sich nicht sagen, für welche Bombenabwürfe die Scheinanlage verantwortlich war. Aber die Vermutung liegt nahe, dass auch die umliegende Bevölkerung in Feuerbach neben den Bürgern in Weilimdorf und Gerlingen unter den Auswirkungen der Anlage zu leiden hatten. Die Forschungsgruppe Unter Tage e.V. formuliert es auf ihrer Homepage so: „Die Streuung der Bombenwürfe, insbesondere bei den Nachtangriffen von Botnang über Feuerbach, Zuffenhausen bis Stammheim und westlich davon bis Gerlingen und Weilimdorf, die nach RAF-Angaben (Royal Air Force) so nicht beabsichtigt war, deutet stark auf die Ablenkung der Bomber durch die Scheinanlage bei Weilimdorf hin.“ Andererseits erlitt Feuerbach natürlich auch in erster Linie wegen seiner kriegswichtigen Industriebetriebe viele Luftangriffe. Ein Bombardement im Februar 1944 zerstörte Gebäude der Firma Bosch. Am 26. Juli und am 28./29. Juli 1944 fanden weitere Großangriffe aus der Luft auf Feuerbach statt. Und auch am 10. und 12. September 1944 traf es Feuerbach schwer. In ganz Stuttgart gab es 53 Luftangriffe, bei denen 57,2 Prozent des Gebäudebestandes zerstört wurden. Fast 4500 Stuttgarter kamen bei Bombenangriffen ums Leben.

Aber wie hat die sogenannte „Scheinanlage“ nahe dem Fasanenhof in Weilimdorf eigentlich funktioniert? Und wie hat sie ausgesehen? Norbert Prothmann, Sprecher der Forschungsgruppe Untertage schilderte unlängst im Alten Rathaus Weilimdorf bei einem Vortrag auf Einladung des Weilimdorfer Heimatkreises sehr detailliert, mit welchen Tricks und Techniken die Nazis in diesem Fall zu Werk gingen. Völlig anders als in Lauffen am Neckar, wo 1940 noch der Bonatz-Bau des Stuttgarter Hauptbahnhofes und das Bahnhofsviertel als Kulisse mit Holzattrappen, Leintüchern und Lichtblitzen imitiert worden war, verzichtete das Baukommando diesmal auf Bau-Attrappen. Tagsüber war die Scheinanlage bis auf einen Kommandobunker und eine Radarstation kaum als solche zu erkennen. Bei sich abzeichnenden Nachtangriffen auf Stuttgart wurden von den Feldern Leuchtraketen abgeschossen. Diese sollten die Leuchtbomben der Alliierten nachahmen. Doch das war gar nicht so einfach. Denn die vorausfliegenden Pfadfinder-Piloten der Alliierten wählten für ihren „Christbaum“, mit dem sie das Zielgebiet für die Bomber markierten, bei jedem Einsatz eine andere Farbe. So startete jedes Mal ein Katz-und-Maus-Spiel. „Die Scheinanlage musste daher Signalraketen in unterschiedlichen Farben vorrätig haben. Wurde vom vorausfliegenden Piloten im wesentlichen Teil Stuttgarts eine rote Zielmarkierung abgesetzt, erhielt der kommandierende Offizier der Scheinanlage den Befehl, von seiner Weststellung dieselbe rote Leuchtrakete abzuschießen“, berichtete Prothmann. Solche Täuschungsaktionen konnten von vier verschiedenen Stellungen (West, Ost, Nord und Süd) vorgenommen werden. Dann wurden von hölzernen Abschussrampen die etwa 40 Kilo schweren „falschen“ Markierungsraketen bis zu 2000 Meter hoch in den Nachthimmel geschossen, wo sie sich öffneten und in farbigen Kaskaden tropenförmig abbrannten und zu Boden gingen.

Im Bereich der Anlage lagen drei schwere Flakbatterien, eine vierte befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft. Um die Täuschung echter aussehen zu lassen, wurden auf der Anlage mehrere qualmende Feuer auf Rosten entzündet. So wurden Brände simuliert. Nach dem Krieg hielt sich ein Gerücht hartnäckig und wurde wiederholt bis heute in Zeitungsartikeln kolportiert: nämlich, dass nahe Weilimdorf „der Stuttgarter Hauptbahnhof in Flammen“ als Kulisse nachgebaut worden sei. Doch dieser Mythos gehört ins Reich der Fake-News: „Die Attrappen-Geschichte stimmt nicht“, stellte Prothmann klar.

Info
Die Ergebnisse der aufwändigen Recherche sind auch in dem 2019 veröffentlichten „Weilimdorfer Heimatblatt“ zusammengetragen. In dem Heft geht es nicht nur um die Scheinanlage, sondern auch um die Themen Bunkerbau, Luftschutz und Blindgänger. Weitere Informationen gibt es auch auf der Homepage vom Verein Schutzbauten Stuttgart in Feuerbach.

http://www.schutzbauten-stuttgart.de/de-de/geschichte2weltkrieg/luftschutzinstuttgart2weltkrieg/tarnenundt%C3%A4uschen/brandanlageweilimdorf.aspx

Von Georg Friedel

Veröffentlicht am 08.02.2023